Denken wir immer an die Zielgruppe, den Leser?

Wen interessiert es wirklich, ob Leser mit der gebotenen journalistischen Leistung zufrieden waren? Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Leserbriefe aufkamen, war das ein kleiner Schritt auf die Leserschaft zu.  Doch noch heute – trotz einfacher Technologien – ignorieren Journalisten und Medienhäuser oft die eigene Zielgruppe. 

Ich erinnere mich an eine Recherche. Da hatte ich mit meinem Text einen Unternehmer so verärgert, dass er mich wütend anrief. Er warf mir vor, dass ich sein Unternehmen in die Insolvenz geführt hätte. Damals war ich sehr erschüttert. Und das obwohl ich wusste, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Ich hatte lediglich darüber berichtet, dass er mir als Journalistin verweigerte, Zahlen zur Liquiditätsplanung herauszugeben und, dass die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte. Eine wichtige Information für die Investoren.

Für wen machst Du das alles?

Und tatsächlich: nichts war falsch. Der Unternehmer war schon vorher insolvent. Fast vier Jahre lang ermittelte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft und hat im vergangenen Jahr Anklage gegen den Unternehmer erhoben; unter anderem wird ihm Insolvenzverschleppung vorgeworfen. Und das rief mir damals einen Satz in den Kopf, den mir ein Journalist während der Ausbildung gesagt hatte.

„Wenn diejenigen anrufen und sich bedanken, über die Du berichtest, hast Du meistens etwas falsch gemacht. Wenn sich die Leser über einen Text bedanken, weil er eine Erkenntnis gebracht hat, dann ist das ein wirkliches Lob.“ 

Wenn ich daran denke, dann rüttle ich mich manchmal mit dieser Geschichte selber wach. Ich stelle mir damit immer wieder die Frage, wofür mache ich die Geschichte und für wen und mit welchem Ziel? Denke ich an den Leser? Er ist mein Kunde.

Vertrauen schaffen

Und Kunden wollen erreicht, gehalten werden und zu ihnen will der Produzent doch Vertrauen schaffen. Doch womit? Das American Press Institute und das AP-NORC Center for Public Affairs Research haben eine gemeinsame Forschungsinitiative mit dem Namen Media Insight Project gegründet, um die Konsumenten von Nachrichten besser zu verstehen. Sie führen eine Reihe wichtiger Studien über die Gewohnheiten von Nachrichtenkonsumenten in den Vereinigten Staaten durch.

In einer Studie aus dem Jahr 2016 bewerteten Amerikaner Genauigkeit als das wichtigste allgemeine Kriterium in Bezug auf Vertrauen. Fünfundachtzig Prozent bezeichnen die richtigen Fakten als einen extrem oder sehr wichtigen Faktor einer vertrauenswürdigen Quelle. Danach folgt die Vollständigkeit mit allen wichtigen Nachrichten und Informationen, die 77 Prozent als sehr wichtig bezeichnen.

Begeistern

Neben Vertrauen ist aber auch wichtig, den Leser für den Text zu begeistern.  Der langjähriger Herausgeber und Stern-Chefredakteur Henri Nennen forderte, dass ein journalistisches Werk auf einen sogenannten Küchenzuruf braucht. Das heißt in zwei bis drei Sätzen sollte der Autor erklären, welche Auswirkungen eine Geschichte hat. Sie beantworten die Frage: Warum soll ich den Text überhaupt lesen?

Henri Nannen erklärte das mit einem Beispiel:

„Wenn am Donnerstag der Hans mit seiner Frau Grete am Arm zum Kiosk pilgert, dort 2 Mark 50 hinlegt und den neuen STERN käuflich erwirbt und sie beide dann mit dem STERN unter dem Arm wieder gemütlich nach Hause wandern; und Grete sich dann in die Küche verfügt, sich die Schürze umbindet, um sich für den Abwasch vorzubereiten; und der Hans nebenan im Esszimmer Platz nimmt, den neuen STERN aufschlägt und mit der Lektüre der ersten Geschichte im neuen STERN beginnt; und wenn der Hans dann nach beendigter Lektüre dieser Geschichte voller Empörung seiner Frau Grete durch die geöffnete Küchentür zuruft: ‘Mensch Grete, die in Bonn spinnen komplett! Die wollen schon wieder die Steuern erhöhen!’ – dann sind diese beiden knappen Sätze … der so genannte Küchenzuruf des journalistischen Textes.“

Bei der Frage, wie begeistere ich mein Publikum, geht es auch darum, sich den Nutzwert für die angesprochene Zielgruppe zu überlegen. Was könnte sie daran interessieren? Sind bei dem Thema Rente, die Rentner meine Zielgruppe, oder diejenigen, die noch Jahrzehnte in die Kasse einzahlen? Es geht darum, sein Publikum zu verstehen und darauf zu reagieren, dass verschiedene Nutzergruppen auch unterschiedliches Vorwissen, Interesse und Geduld mitbringen. Nicht jeder weiß, was Riestern ist und wonach sich die Rente berechnet. Sind die Fragen zur Zielgruppe geklärt, und eine These für den Nutzer herauskristallisiert, geht es darum den Text spannend zu gestalten.

Damit ein journalistische Produkt überrascht, braucht es packende Beschreibungen, interaktive Visualisierung großer Datenbestände und multimediales Storytelling. Ist der Text langweilig, ist der Leser schnell wieder weg. Bei Videos ist recht klar zu beobachten, wann die Nutzer aussteigen. Doch bei Texten, wie ist das da?

Wann steigt der Nutzer aus?

Der Zeitungs-Designer Norbert Kipper hatte schon damals eine geniale Idee. Er setzte Testpersonen eine Brille auf, um herauszufinden, wie sie die Zeitung lesen. Seine Beobachtung: Erst einmal zieht das Bild auf der Seite die Leser an und er liest dann die Überschrift wie eine Bildzeile; dann kehrt er zum Foto zurück, ehe er zu Bildzeile und Artikel geht. Wenn beides nicht zusammen passt, ist er uninteressiert und wandert weiter. Und wenn Überschrift und Bild passen, nützt es auch nichts, wenn der Text die Leser langweilt oder gar abschreckt.

Noch kritischer und radikal ist der Online-Leser: Das „Eye-Tracking“ zeigt, dass wenn den Leser nicht innerhalb von zwei, drei Sekunden etwas ihn ins Auge springt, beendet er seine Lektüre sofort. Auch wenn das Internet als Medium gesehen wird, das vom Bild geprägt ist, spielen Überschrift und Teaser auf Nachrichten-Seite die entscheidende Rolle.

Daher finde ich, müssen sich Verlage und Medienhäuser mit der Zielgruppe auseinandersetzen und nicht nur mit Klickzahlen. Die sagen nämlich nicht aus, ob jemand den Text auch gelesen hat. Das können Indizien sein, dass ein Leser das Thema interessant findet und die Überschrift reizvoll war. Doch wie lange bleibt er auf dem Artikel? Findet er ihn hilfreich? Versteht er alles?

In Kontakt treten mit der Zielgruppe

Und um das herauszufinden braucht es nicht unbedingt eine teure Brillen-Analyse. Mit den sozialen Netzwerken oder Newslettern kann jeder Verlag oder jedes Medium diese Menschen gut erreichen und sich mit ihnen beschäftigen. Warum nicht mal fragen: Was schätzt Ihr an unseren Artikeln, wo seht Ihr Verbesserungsbedarf? Was wünscht Ihr Euch von uns? Welche Fragen stellt Ihr Euch und können wir das für Euch recherchieren? Gehen wir doch aufeinander zu.

Im Nachhinein hätte ich auch gerne mit den Betroffenen der Insolvenz des Unternehmens gesprochen. Was interessiert sie? Ich hätte noch besser recherchieren können dadurch. Damals war dann mein Praktikum zu Ende.

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